Ferdinand Uth
Tokio
Hannes saß wie fast jeden Nachmittag in diesem Sommer gemeinsam mit Mike auf dem Hof hinter ihren Wohnmobilen im Industriegebiet Diemitz, das östlich des Hauptbahnhofes Halle lag. Es war eigentlich weniger ein Hof als ein Schrottplatz, hinter einigen Datschen, die verarmten Künstlern als Ateliers dienten. Der Boden war hier aus Asphaltkautschuk, der mehr oder weniger spröde geworden war und aus dessen Ritzen hier und da Unkraut hervorspross. Weiter hinten lagen Autoteile, verschiedene Stahlträger, die wohl einst zu einer Fabrik gehört hatten und einiger Kram der Anwohner, den niemand stehlen würde. Danach kam ein Zaun, dessen Krone aus Stacheldraht durchlässig und rostig war. Was noch weiter dahinter lag, war schwer zu sagen: Es hätte von Ackerland bis zur Innenstadt alles sein können.
Hannes als auch Mike saßen in ihren Campingstühlen an einem Tisch – eigentlich eine auf der Seite liegende Kabeltrommel – und auf dem Tisch standen zwei Dosen Bier, deren angenehme Kühle eine willkommene Abwechslung zur hochstehenden Sonne bildete. Es war der einzige echte Luxus in ihrem Leben momentan, kühles Bier.
“Es ist wieder sehr warm heute”, sagte Hannes nach einer Weile. Seine Haut hatte im Gesicht und Nacken einen leichten Rotschimmer, dort, wo die Sonne sie verbrannt hatte.
“Fast wie in Südfrankreich”, nickte Mike.
“Bis auf den Gummigeruch.”
“Tja, daran wirst du dich schon noch gewöhnen.”
“Gewöhnt habe ich mich daran. Nur mögen tue ich ihn nicht.”
Sie schwiegen eine Weile. Ein Flugzeug flog in großer Höhe über den Industriehof hinweg. Beide blickten dem Schatten am tiefblauen Himmel hinterher, bis er außer Sicht war und auch der Schall langsam wieder verstummt war.
“Warst du schon mal in Tokio?”, fragt Hannes schließlich.
“Was soll ich denn in Tokio?” Mike wischte mit seinem Handrücken den Schweiß von der Stirn. “Vielleicht ist die Maschine dort oben ja nach Tokio unterwegs. In zwölf oder fünfzehn Stunden könnte man dort sein.” Hannes trank von seinem Bier.
“Dafür war der Flieger schon zu tief. Außerdem ist er nach Norden geflogen, vermutlich geht der nur nach Berlin.”
“Es ist länger her, dass ich mal in Berlin war. Bestimmt ein Jahr oder anderthalb.”
“Was willst du in Berlin? Wir haben doch genug zu tun hier.” Mike wischte sich wieder den Schweiß von der Stirn. Er hatte, seit sich seine Geheimratsecken immer mehr ausgeweitet hatten, eine Glatze rasiert, auf der nun kleine Perlen standen. Die Luft summte vor Hitze und gelegentlich mussten Hannes oder Mike eine Fliege verscheuchen, die sich auf einem von ihnen niederließ. Der Sauerampfer, der zwischen dem Asphaltkautschuk spross, ließ die Blätter hängen.
“In Tokio ist es noch wärmer. Und feuchter, fast wie in den Tropen. Ohne eine Klimaanlage kommt man gar nicht aus. Ich habe eine Dokumentation gesehen, im Fernsehen…”
“Reichen dir dreißig Grad nicht? So eine Hitze. Wir sollten zum See fahren”, sagte Mike, ohne zu Hannes hinüberzusehen. Er meinte den Hufeisensee in Halle, der nicht unweit von ihrem Hof lag und dessen Hufeisenform ihm seinen Namen eingebracht hatte. Man brauchte ungefähr fünfzehn Minuten mit dem Rad dorthin.
“Da ist es jetzt sicher voll”, gähnte Hannes. Eine Schwebfliege verharrte eine Sekunde vor ihm in der Luft, doch er war zu träge, sie zu verscheuchen. Wie auf ein unsichtbares Zeichen hin flog sie dann fort. In der Ferne brummte ein Motor.
“Es dauert zwei Stunden mit der S-Bahn, Tokio zu durchqueren, so groß ist die Stadt. Kannst du dir das vorstellen?”
“Wir könnten ja die Fahrräder nehmen und mit ein paar Bier zum See, was meinst du?”, fragte Mike zögerlich.
Hannes zuckte die Schultern: “Wenn du unbedingt willst.”
“Wir müssen auch nicht, wenn du keine Lust hast…”
“Mir ist es gleich. Entscheide du.”
“Ich dachte, eine kleine Abkühlung… Aber wenn du nicht willst, können wir es auch lassen”, sagte Mike und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
“Nein, nein. Fahren wir ruhig…” Hannes rieb sich über die Nase und seufzte.
“Wir können ja das Bier noch austrinken und dann los.”
“Wohin ging eigentlich deine Hochzeitsreise, Mike?”
“Meine Hochzeitsreise mit Susanne? Gott, da habe ich lange nicht dran gedacht.”
“Wie lange ist das nun her?”
Eine winzige Wolke schob sich kurz für die Sonne und machte für ein paar Sekunden einen Schatten. Kein Wind bewegte das trockene Gras.
“Das müssten an die zwanzig Jahre sein. Es war ja noch zu Ostzeiten, damals konnte man nicht einfach in den nächsten Flieger steigen. Wir sind dann nach Bulgarien zu zweit, bis ans Schwarze Meer, weiter kamen wir nicht. Aber das war auch sehr schön. Ich habe wirklich lange nicht mehr daran gedacht. Wir hatten so viel Zeit…”
“Bulgarien, wie?” Hannes drehte die Bierdose zwischen den Fingern. Ein kleiner Rest schwappte dabei an ihrem Boden hin und her.
“Ja, Bulgarien. Das ist eine Ecke näher dran als Tokio. Und günstiger, wir sind damals mit dem Zug gefahren oder getrampt.” Mike lachte heiser, es hätte aber auch ein Hüsteln sein können.
“Es muss aufregend sein, so eine Reise zu zweit.”
“Ach, geht so. Jetzt wäre das nichts mehr für mich.” Mike legte den Kopf in den Nacken, um den Rest seiner Bierdose zu leeren: “Bist du soweit? Meinetwegen können wir los.”
“Ich stelle mir das schön vor. Zu zweit so weit weg, in die Fremde. Ein richtiges Abenteuer.”
“Mit einer Frau? Ne, du. Da gibt es Besseres…”
“Was denn?”, fragte Hannes und sah Mike an.
Die Sonne stand mit ungehinderter Wucht auf dem Hinterhof. In den Wohnwagen war es tagsüber nicht auszuhalten, und selbst wenn man nach dem Einbruch der Dunkelheit alle Fenster aufsperrte, waren die Laken schnell durchgeschwitzt. Dann tranken sie immer das kühle Bier, das war eine kleine Erleichterung…
“Ach naja, das ist alles lange her. Ich mache mir nichts mehr aus solchen Abenteuern. Bist du soweit?” Mike war im Begriff, aufzustehen.
“Warte, ich trinke noch aus”, sagte Hannes.
Mike legte den Kopf in den Nacken. Morgen mussten sie einkaufen, und dann war schon fast wieder Wochenende. Der August würde sich auch schnell dem Ende zuneigen.
“Wir sollten langsam mit dem Opel anfangen. Der Sommer ist bald rum.” Mike sah zu der weißen Karosse, die aufgebockt auf ein paar Balken unweit der Wohnwagen stand.
“Ist denn die Kurbelwelle da?”
“Die treiben wir bis dahin schon auf. Heute gehen wir zum See. Die Abkühlung wird uns guttun.”
Hannes zerdrückte die leere Bierdose und stand auf: “Na dann, auf ein weiteres Abenteuer…”
Weit über ihnen flog ein weiteres Flugzeug hinweg. Es zog keine Kondensstreifen, es war nur ein kleiner dunkler Fleck, der irgendwo auf den Feldern Sachsen-Anhalts einen Schatten warf, weit hinter dem Zaun. Hannes blickte der Maschine hinterher, bis das leise Grollen nicht mehr zu hören war. Er hätte es nicht wissen können, aber in diesem Moment war er sich vollkommen sicher, dass sie nach Tokio flog. “Hast du die Handtücher?”, fragte Hannes und wandte sich ab.
Erschien März 2021 in der experimenta Literaturzeitschrift.